Zu den aktuellen Auseinandersetzungen im Tarifbereich

Hier ein lesenswerter Kommentar von Heiner Müller, Bayerischen Rundfunk:

So ist wirklich kein Staat zu machen

Kommentar von Heiner Muller
Bayerischer Rundfunk, Bayern 1, Treffpunkt München, 9.2.06, 12.05

„Die Arbeitslosen“, so betont Hartmut Mollring von der Arbeitgeberseite, ,,werden für diesen Streik kein Verständnis haben.“ Nun, ich versuche mich gerade einmal in die Situation eines Arbeitslosen hineinzuversetzen, der auf Arbeitssuche ist. Als Krankenpfleger beispielsweise oder als Arbeiter bei einer Straßenmeisterei. Oder eine Frau, die dringend Arbeit braucht als Sekretärin; die deshalb nachfragt bei der Universität oder bei der Justiz.

Wird man diesen Arbeitslosen künftig sagen: „Ja es schaut gut aus für Sie. Demnächst wird einiges frei, hier müssen nämlich alle langer arbeiten.“ Natürlich könnte so einen Unsinn kein einziger Personalchef sagen. Vielmehr wird die Antwort an den Arbeitssuchenden schlicht and einfach lauten: ,,Machen Sie sich bis auf weiteres keine Hoffnung. Freiwerdende Stellen werden nicht mehr besetzt, denn die Arbeitszeit wurde ja heraufgesetzt, damit die Leute, die noch drin sind, mehr arbeiten.“

Wer also, wie Hartmut Mollring, der Vorsitzende der Tarifgemeinschaft der deutschen Länder, die Arbeitslosen gegen die Gewerkschaft in Stellung bringen will, der spielt mit falschen Karten. Oder er hat schon in der Grundschule im Rechenunterricht nicht aufgepasst. Nehmen wir nur einmal an, in der Straßenmeisterei müssen – damit alles funktioniert – in der Woche 3850 Stunden geleistet werden. Bei der jetzigen Arbeitszeit von 38,5 Stunden braucht man dazu also genau 100 Arbeiter. Müsste jeder dieser 100 Arbeiter künftig aber 42 Stunden arbeiten, dann könnte die gleiche Arbeit statt von 100 eben von nur noch 91 Arbeitern geleistet werden. 9 Arbeitsplätze fielen weg. Das ist so, mit der Mathematik kann man nicht diskutieren.
Gut, werden Sie jetzt vielleicht sagen, das mag ja sein. Aber mit den öffentlichen Haushalten kann man erst recht nicht diskutieren, mit denen kann man ja schon seit Jahren keinen Staat mehr machen. Auf den ersten Blick ist das richtig. Die öffentlichen Kassen sind nicht nur leer – wir bauen auch noch riesige Schuldenberge auf.

Aber ein Naturereignis, ein unabwendbares Schicksal ist das nicht. Dass mit unseren öffentlichen Finanzen kein Staat mehr zu machen ist, hängt vielmehr damit zusammen, dass weite Kreise in unserem Land einfach keinen Staat mehr machen wollen. Über viele Jahre hinweg haben wir – and zwar quer durch die Parteien hindurch – das hohe Lied vom schlanken Staat gesungen. Das, was unser Land in den Nachkriegsjahrzehnten so stark and lebenswert machte, nämlich ein gut funktionierendes Gemeinwesen, das wurde schlecht geredet, als Ballast empfunden, als Hemmschuh für die Entfaltung der freien Kräfte des Marktes.

Und deshalb wurde es plötzlich modern, überall die Steuern zu senken, am deutlichsten übrigens bei den Reichen and Superreichen. Der Spitzensteuersatz, der beim legendären CDU-Wirtschaftminister Ludwig Erhard noch bei 53 Prozent gelegen hatte, wurde erst unter Kohl and dann unter Schröder von 53 auf 42 Prozent gesenkt.
Ein anderes Beispiel: Allein durch die Körperschaftssteuerreform sollten 2002 rund 8 Milliarden Euro hereinkommen. Tatsächlich kam nicht nur nichts, sondern der Finanzminister musste großen Konzernen sogar noch 3 Milliarden zurückzahlen.
Oder die Mehrwertsteuer: Seit Jahren weisen die Fachleute auf gigantischen Missbrauch hin, der für den Staat Ausfälle in zweistelliger Milliardenhöhe zur Folge hat.
Man muss nicht mehr solcher Beispiele nennen, um zu sehen, wo die wirkliche Ursache unserer Finanzkrise ist. Nicht die Ausgaben der Öffentlichen Hand sind explodiert sondern die Einnahmen wurden systematisch heruntergefahren. In der naiven Hoffnung, das private Kapital wurde die Zurückhaltung des Staates honorieren, würde also freudig investieren and Arbeitsplätze schaffen.
Nichts davon ist eingetroffen. Statt der Zahl der Arbeitsplätze steigen nun die auch noch steuerbegünstigten Gewinne immer weiter – zurück bleiben die Arbeitslosen und ein immer ärmerer Staat. Und der will jetzt in seiner selbstgeschaffenen Finanznot auch noch die Arbeitszeit verlängern, wodurch die Arbeitslosigkeit noch weiter ansteigen würde.
Wenn die Gewerkschaften gegen diese irrwitzige Logik zum Streik aufrufen, haben sie mehr als recht.
Denn so ist wirklich kein Staat zu machen.